In einer Stadt ist man erst, wenn man das Bahnhofsgebäude verlässt. Gleichgültig wie lange man schon durch Vororte, Kleingartensiedlungen, an Industrieanlagen und Großeinkaufszentren vorbei, durch das eigentliche Stadtgebiet gefahren sein mag, angekommen ist man erst, wenn man aus dem Bahnhof tritt. Im Waggon ist immer ein Teil des Ortes, der verlassen wurde, der sich über den Ort der Ankunft legt wie ein unruhig gemustertes Tuch. In der Bahn lässt sich das beobachten, leicht erfühlen, nur dort, im Flugzeug oder Auto gelingt dies, das eine Mal der Weite, das andere Mal der Nähe wegen nicht.
Max schob seine Reisetasche ins Wageninnere, setzte sich daneben und nannte dem Fahrer seinen Wunsch. Beim Warten an roten Ampeln versuchte er sich an das Gewesene zu erinnern, wie diese Hausfassaden damals ausgesehen, welche Firmen anstatt der heutigen jene Geschäftslokale betrieben hatten. Er zertrümmerte Segmente der Stadt in seinem Kopf, eine eigentümliche Ruine entstand, stattliche Bauten der Gründerzeit, helle, barock geschmückte Häuser neben klaffenden Lücken gleich einem strahlenden aber dennoch unvollständigen Gebiss, und errichtete sie neu, so wie sie während seiner Kindheit ausgesehen hatten. Er kurbelte das Fenster einen Spalt breit herunter und sog behutsam den Fahrtwind durch die Nase ein, in dem Glauben, dass vielleicht altbekannte, einstmals lieb gewonnene Gerüche sein Erinnerungsvermögen unterstützen könnten. Nichts Vertrautes aus vergangenen Tagen bot sich seinem Geruchssinn, nur der übliche Stadtgestank, oft und an vielen Orten wahrgenommen, gemischt aus den Abgasen der Fahrzeuge, der Fäulnis der mangels ergiebigen Regens ausgetrockneten Abwasserkanäle, dem Schweiß und den darüber gestäubten Parfums der Bewohner, dem Urin der Hunde. Als das Taxi an einem Park vorüber fuhr, zerriss der schwere und unverkennbare Duft der Kastanienblüten das austauschbare Einerlei. In seinen Gedanken verdichteten sich die dazugehörigen Bilder, waren lebendig geworden, griffen immer weiter, bis hinab in seine Brust, waren bei ihrer Ankunft dort längst Gefühl. Nirgends auf der Welt riechen blühende Kastanienbäume so wie hier, die Bäume deiner Jugendzeit heißen dich willkommen… das ist doch wie aus dem Groschenheft, dachte Max, kurbelte das Fenster hoch und grinste.
„Laut der Reservierung bleiben Sie bis Sonntag. Ist das richtig?“ fragte der Portier. „Ja.“ „Das Zimmer muss am Sonntag bis spätestens 10 Uhr vormittags geräumt sein.“ „Ja, ich weiß.“ „Nummer 112. Erster Stock. Der Lift ist leider vorübergehend außer Betrieb.“ „Aha. Sperrt dieser Schlüssel auch den Haupteingang oder gibt es einen Nachtportier?“ „Die Rezeption ist 24 Stunden besetzt. Bitte geben Sie den Schlüssel beim Verlassen des Hauses immer ab.“ „Mach ich. Danke.“ Als wenn jemand ohne Zwang dieses Monstrum mit nach draußen nehmen möchte, dachte Max und betrachtete amüsiert den hölzernen Schlüsselanhänger, der so groß und schwer wie eine Billardkugel in seiner Hand lag.
Das Zimmer, eigentlich ein Kabinett, präsentierte sich in abweisender Schäbigkeit. Ein dünnbeiniger Tisch mit abgeschlagenen Kanten, ein Stuhl, dessen Furnier auf der Sitzfläche, von hunderten Hintern selbstlos poliert, schmutziggrau schimmerte, und aus dem Duschraum roch es nach Chlor und Schimmel, der penetrante Geruch eines Krieges, den vermutlich irgendwann der Pilz gewinnen wird. Durch ausgeschossene Vorhänge fiel schwaches Licht aufs Bett. Die Decke, das Kissen, die eine akkurat gefaltet, das andere straff bespannt, beide blütenweiß – ein irritierender aber auch erfreulicher Bruch im Gesamteindruck. „Es ist ja nur für zwei Nächte“, sagte Max tröstend, als spräche er zu einem betrübten Kind. Er suchte nach der üblichen Bibel in der Nachttischschublade. Keine dort, nur ein Restaurantführer, Broschüren mit Sehenswürdigkeiten, das Streichholzheft einer Nachtbar, mit dem Schattenriss einer nackten Frau und der Aufschrift „For Gentlemen only“ auf der Vorderseite. Die voranschreitende Verweltlichung der Menschheit ist sogar in Hotelzimmern offensichtlich, dachte Max, warf sich aufs Bett und schaute gegenüber auf das einzige Bild des Raumes, eine vergilbte Fotografie des berühmten Doms dieser Stadt. Dieses gleichmäßige Gelb, als hätte der Fotograf die Kirche während eines Sandsturms aufgenommen, auf jenen eventuell gewartet, das Unmögliche erhofft, enttäuscht dann doch das Übliche abgelichtet. Aber nach Jahren der Bestrahlung ist das Bild endlich jenes, dass es schon immer sein sollte: Dom im Sandsturm.
„Ich bin schon in der Stadt und wälze mich gerade in einer Sperrmüllsammlung während eines Sandsturms. Nein, natürlich nicht wirklich, war nur Spaß. Gegen neun? Gut, und wo? Hm, Café Walther mit H? Wo ist das, sagst du? Aha, ja, ja, weiß schon. Also um neun. Bis dann.“
Max fand hinter dem Nachttisch eine freie Steckdose für die Aufladung der fast leeren Mobiltelefonakkus. Das war notwendig, allein schon wegen der Weckerfunktion. Zwei Stunden lang noch ruhen, dösen, vielleicht sogar schlafen. Er wollte sich nicht frisch machen, nicht in diesem Raum, der wider alle Auffrischung sprach, mit dem fleckigen Spiegel, dem rostigen Handtuchhalter, dem von Kalk zerfressenen wie in Kreide getauchten Duschvorhang. Morgen nach dem Aufstehen ein Brausebad, ganz schnell auf den Zehen und mit spitzen Fingern, das schon, das ließ sich nicht vermeiden, wenn man unter Menschen musste, der Tarnung bedurfte.
Es war noch hell. Max liebte die Helligkeit am Abend. Das war seine Jahreszeit für die schönen Abende. Er ging früher los, wollte nicht fahren, nicht geführt, nicht bloß irgendwo hingebracht werden, genoss die Umwege, den Spaziergang durch die eindämmernde Stadt. Die Vermengung der vielfältigen Lichtarten, die nicht zu übersehende Müdigkeit der heimgehenden Passanten, ermattet durch Arbeit und Hitze, den schwächer werdenden Verkehr der Autos, die sommerlichen Geräusche, das klappernde Geschirr aus weit geöffneten Fenstern, das zaghafte Klirren der Gläser aus den Gastgärten, das bedächtige Quietschen der Straßenbahn in den Kurven, das leiser werdende Gelärme der letzten spielenden Kinder in den Parks und das kaum merkliche Knistern der Blätter an den Bäumen, die sich auf die Kühle dieser Nacht vorbereiteten. Ein Sein am Ufer des Meeres, des Ozeans des Anbeginns, wurde ihm für Augenblicke durch all dies.
Als Max das Café betrat, sah er Franziska sofort. Sie rührte wie sooft geistesabwesend in einer Tasse und heischte nach Mitleid, mit jeder Bewegung, mit jeder Miene. Als sie ihn entdeckte, verzerrte sie ihr Gesicht noch schmerzvoller. Max kannte das, wusste auch, dass sie jetzt möglichst umständlich aufstehen würde, zur Begrüßung, zur Umarmung. Nachdem sie alle Umsitzenden mit theatralischen Verrenkungen von ihren Gebrechlichkeiten überzeugt zu haben glaubte, damit demonstrierte, wie wichtig ihr der nun auf sie zukommende Gast ist, bot sie -wackelig wie ein verwittertes Gartentor im Wind - Max ihre Wange zum Kuss.
„Wie geht’s dir, Tante, erzähl!“ fragte Max nach einer Minute des Abwartens, bis sich Franziska mit gewohntem Aufwand wieder auf der Sitzbank eingerichtet hatte.
... läßt sich bislang nicht viel sagen. Ich gehe davon aus, daß es sich um einen Ausschnitt aus einem längeren Text handelt. Sollte das nicht der Fall sein, müßten wir ein ernstes Gespräch führen über die Struktur von Kurzgeschichten.
Was m.E. nicht funktioniert, ist der Dialog mit dem Portier. Der transportiert nur Banalitäten, die weder zur Charakterisierung des Protagonisten taugen, noch zur Stimulanz der Erzählsituation. Das ist eine typische Brückenszene. Brückenszenen sollten aber eher in indirekter Rede wiedergegeben werden, die direkte Rede ist zu langatmig und führt die Handlung auch keinen Schritt weiter, was sie im günstigsten Fall aber mit jedem Satz sollte. Gerade die geschickte (nicht "korrekte") Anwendung von direkter und indirekter Rede zeichnet den guten Text aus (salbungsvolles Wort Nr.1).
Zum Stil:
ZitatMax schob seine Reisetasche ins Wageninnere, setzte sich daneben und nannte dem Fahrer seinen Wunsch.
Mot juste (= im folgenden MJ).: Wunsch? Ich glaube, auf Wünsche reagieren Taxifahrer eher unwirsch. Eher "Ziel", "Fahrtziel"
ZitatBeim Warten an roten Ampeln versuchte er sich an das Gewesene zu erinnern, wie diese Hausfassaden damals ausgesehen, welche Firmen anstatt der heutigen jene Geschäftslokale betrieben hatten.
Z: Beim Warten an roten Ampeln versuchte er sich an das Gewesene zu erinnern: wie diese Hausfassaden damals ausgesehen, [...]
Zitatwelche Firmen anstatt der heutigen jene Geschäftslokale betrieben hatten.
St: ungeschickt formuliert.
... welche Firmen damals die Geschäftslokale betrieben hatten.
"jene" geht gar nicht.
ZitatEr zertrümmerte Segmente der Stadt in seinem Kopf, eine eigentümliche Ruine entstand, stattliche Bauten der Gründerzeit, helle, barock geschmückte Häuser neben klaffenden Lücken gleich einem strahlenden aber dennoch unvollständigen Gebiss, und errichtete sie neu, so wie sie während seiner Kindheit ausgesehen hatten.
St & Z: Der Satz muß erst einmal geordnet werden. Schlage vor:
Er zertrümmerte Segmente der Stadt in seinem Kopf. (obwohl mir das bereits ein Stilfehler scheint - Segmente zertrümmern?) Eigentümliche Ruinen entstanden: stattliche Bauten der Gründerzeit, helle, barock geschmückte Häuser neben klaffenden Lücken (können Lücken klaffen? Löcher ja, aber Lücken???), gleich einem strahlenden aber (dennoch) unvollständigen Gebiss, und er (Du brauchst hier unbedingt wieder ein Subjekt!) errichtete sie neu, so wie sie während seiner Kindheit ausgesehen hatten.
und sog behutsam den Fahrtwind durch die Nase ein,
und sog (behutsam) den Fahrtwind (durch die Nase) ein
MJ: Behutsam scheint mir das falsche Wort. Wind behutsam einsaugen? Durch die Nase ist ohnehin klar, man kann Fahrtwind ansonsten nur durch den Mund einsaugen, aber das würde man gesondert erwähnen, bei der Nase ist das aber so selbstverständlich, daß es keiner weiteren Erwähnung bedarf.
Zitatder Fäulnis der mangels ergiebigen Regens ausgetrockneten Abwasserkanäle, dem Schweiß und den darüber gestäubten Parfums der Bewohner, dem Urin der Hunde.
St: muß umgestellt werden (stärkstes Element am Schluß):
der Fäulnis der mangels ergiebigen Regens ausgetrockneten Abwasserkanäle, dem Urin der Hunde, dem Schweiß und den darüber gestäubten Parfums der Bewohner.
Zitatdas austauschbare Einerlei.
St: gefällt mir einfach nicht. Klingt als ob Du hier keine Worte gefunden hast und irgendeinen Lückenfüller eingesetzt hast.
ZitatIn seinen Gedanken verdichteten sich die dazugehörigen Bilder, waren lebendig geworden, griffen immer weiter, bis hinab in seine Brust, waren bei ihrer Ankunft dort längst Gefühl.
St, muß in der Reihenfolge geordnet werden:
In seinen Gedanken waren die dazugehörigen Bilder lebendig geworden, verdichteten sich, griffen immer weiter (tiefer?), bis hinab in seine Brust, waren bei ihrer Ankunft dort längst Gefühl.
ZitatAls wenn jemand ohne Zwang dieses Monstrum mit nach draußen nehmen möchte, dachte Max und betrachtete amüsiert den hölzernen Schlüsselanhänger, der so groß und schwer wie eine Billardkugel in seiner Hand lag.
Als wenn jemand ohne Zwang dieses Monstrum mit nach draußen nehmen würde, dachte Max und betrachtete amüsiert den hölzernen Schlüsselanhänger, der (so) groß und schwer wie eine Billardkugel in seiner Hand lag.
ZitatEin dünnbeiniger Tisch mit abgeschlagenen Kanten, ein Stuhl, dessen Furnier auf der Sitzfläche, von hunderten Hintern selbstlos poliert, schmutziggrau schimmerte, und aus dem Duschraum roch es nach Chlor und Schimmel, der penetrante Geruch eines Krieges, den vermutlich irgendwann der Pilz gewinnen wird.
Z & St: Ein dünnbeiniger Tisch mit abgeschlagenen Kanten, ein Stuhl, dessen Furnier auf der Sitzfläche, von hunderten Hintern selbstlos poliert, schmutziggrau schimmerte. Aus dem Duschraum roch es nach Chlor und Schimmel, der penetrante Geruch eines Krieges, den vermutlich irgendwann der Pilz gewinnen würde.
ZitatDurch ausgeschossene Vorhänge
Ich fürchte, das ist mundartlich. Ich kenne nur den Ausdruck "verschossene" Vorhänge.
ZitatDie Decke, das Kissen, die eine akkurat gefaltet, das andere straff bespannt,
St, geht gar nicht, zumal eine (diese) sich immer direkt auf den letzten Gegenstand beziehen muß und andere (jene) auf den ersten; klingt abre auch nicht gut. Mein Vorschlag:
Die Decke, das Kissen: dies akkurat gefaltet, jene straff bespannt...
ZitatEr suchte nach der üblichen Bibel in der Nachttischschublade.
St: Adjektivhäufung! In diesem Abschnitt und um ihn herum sind Deine Sätze fast immer gleichgebildet, jedes Objekt erhält ein charakterisierendes Adjektiv. Das wirkt sehr ermüdend. Du solltest überhaupt den Gebrauch Deiner Adjektive einmal kritisch prüfen, viele sind einfach nur schmückend, was nicht nur unmodern wirkt (was scheißegal sein könnte), v.a. aber unelegant wirkt. Daß die Bibel üblich, ja, eigentlich obligat ist, weiß eigentlich jeder. Kannst Du also getrost weglassen.
ZitatDie voranschreitende Verweltlichung der Menschheit ist sogar in Hotelzimmern offensichtlich,
MJ: "offensichtlich" kann grammatikalisch so nicht verwendet werden (ich erspare Dir die zugehörige Regel). In dem Falle müßtest Du das veraltete "ersichtlich" verwenden, oder aber den Satz am besten neu konzipieren, ihn aus dem drohenden Nominalstil in den Verbalstil bringen. So oder so ähnlich:
Jetzt sieht man schon in Hotelzimmern, wie die Verweltlichung unablässig voranschreitet, dachte Max.
ZitatFotografie des berühmten Doms dieser Stadt.
St: doppelter Genitiv, ganz hart an der Grenze, solche Genitivhäufungen. "Dieser Stadt" würde ich vermeiden und umschreiben, z.B.:
Fotografie des berühmten städtischen Doms. (ok, ist nicht gerade toll vielleicht fällt Dir etwas Besseres ein)
ZitatDieses gleichmäßige Gelb, als hätte der Fotograf die Kirche während eines Sandsturms aufgenommen, auf jenen eventuell gewartet, das Unmögliche erhofft, enttäuscht dann doch das Übliche abgelichtet.
Z / St / Temp: dringend ordnen:
Dieses gleichmäßige Gelb, als hätte der Fotograf die Kirche während eines Sandsturms aufgenommen. Vielleicht hatte er das Unmögliche erhofft, ihn [den Sand] erwartet, und dann doch enttäuscht das Übliche abgelichtet.
ZitatNein, natürlich nicht wirklich, war nur Spaß.
Also, das geht gar nicht, vielleicht im wirklichen Leben, aber nicht in einer Erzählung. Dann kannst Du den vorangegangenen Satz auch gleich wieder streichen. Wenn Du damit signalisieren willst, daß das Gegenüber den Scherz nicht versteht, weil der Protagonist zu abgehobene Scherze macht, mußt Du das anders ausdrücken. Abgesehen davon: "nicht wirklich" geht nicht wirklich im Deutschen, gell?! Noch was: auch diese direkte Rede ist nicht nötig. Man kann das Ergebnis dieser Verabredung auch und geschickter in dem vorangehenden Erzählerbericht unterbringen.
Zitatfür die Aufladung der fast leeren Mobiltelefonakkus
St: Nominalstil!
um die fast leeren Mobiltelefonakkus aufzuladen
ZitatZwei Stunden lang noch ruhen, dösen,
Zwei Stunden lang ruhen, dösen, ...
Zitatdem von Kalk zerfressenen wie in Kreide getauchten Duschvorhang.
Z: dem von Kalk zerfressenen, wie in Kreide getauchten Duschvorhang.
Zitatganz schnell auf den Zehen und mit spitzen Fingern, das schon, das ließ sich nicht vermeiden, wenn man unter Menschen musste, der Tarnung bedurfte.
Z: ganz schnell, auf den Zehen und mit spitzen Fingern, das schon, das ließ sich nicht vermeiden, wenn man unter Menschen musste und der Tarnung bedurfte.
ZitatEin Sein am Ufer des Meeres, des Ozeans des Anbeginns, wurde ihm für Augenblicke durch all dies.
St: wirkt sehr geschraubt, würde ich ggf. ganz weglassen, jedenfalls ist das nachgestellte "durch all dies" far beyond 21st century.
ZitatSie rührte wie sooft geistesabwesend in einer Tasse
Sie rührte geistesabwesend in einer Tasse
Aus dem folgenden geht ohnehin hervor, daß das ihre Art ist.
Und 80 wäre ein Freundschaftspreis. Allerdings hänge ich dann auch noch salbungsvolle Worte an und schreibe etwas über Marktchancen. Außerdem erkläre ich jeden Furz und Feuerstein und würde sicher noch mal auf diese oder jene Erklärung genauer eingehen und Hinweise auf die dahinterliegnede Schreibtheorie geben.
Ich bitte Dich: das wären gut 3 Stunden Arbeit. Arbeitest Du gemeinhin für unter 30 € die Stunde???
Ganze Bücher funktionieren so natürlich nicht. Aber wenn es Dich näher interessiert: das Literaturbüro bietet einen entsprechenden Lektorenservice an. Der Leiter hat u.a. an renommierten amerikanischen Universitäten Creative Writing unterrichtet und ist sehr gut. Knallhart, aber sehr gut. Außerdem besteht anschließend auch im eigenen Verlag eine Veröffentlichungsmöglichkeit, dann wird das Lektorat natürlich anders verrechnet (ist ja dann kein externer Service mehr). Er veranschlagt knapp 8 € pro Normseite. Bei einem anständigen Romankonvolut bist Du also mit 1500 € dabei. Und das ist ein vollkommen realistischer Preis. Was z.B. nicht jedem kleinen Fachwerksforenbetreiber eingängig war, der rasch Zeter und Mordio rief und sich unter die Räuber gefallen glaubte.
ZitatGepostet von Martin von Arndt Ich bitte Dich: das wären gut 3 Stunden Arbeit. Arbeitest Du gemeinhin für unter 30 € die Stunde???
Hoffentlich nicht. Zwee Anmerkungen. Merci für die Lektorirerey. Man hat doch Gewinnst davon, auch und gerade als Unbeteiligter. Ich hatte gleichfalls schon ein paar Zeilen geschrieben, dann aber gemerkt, dass man es ganz machen muss, oder aber eben gar nicht. Und für ganz fehlte mir die Zeit.
Wie sehr geht bei Dir eigentlich Deine eigene Vorliebe, Dein Stilwillen, Deine Technik in so etwas ein? Kann man bloß Handwerkliche immer von der eigenen poetologischen Position trennen? (Dass man es oft kann, ist mir natürlich klar) Mir, beispielsweise, wäre es sehr schwergefallen, nicht überall "zu viele Worte" dran zu schreiben, aber davon geht mindestens 80% auf meine Vorliebe für wenig Worte in Erzähltem. Man halte mir hier nicht meine Wertschätzung für Th. Mann vor...
Naja, "Bekenntnisprosa" ist eigentlich kein geschicktes Wort, und natürlich schon gar kein Fachwort. Ich verwende es nur ganz gern in Abgrenzung zu "betrachtender Kurzprosa". Die ist so eine Art Kreisen um einen Gedanken, meist recht intuitiv. Das in etwa, was entsteht, wenn automatische Texte nachrationalisiert werden. Darunter kann es ganz hübsche, einem Essay schon recht ähnliche Texte geben.
Bekenntnisprosa ist die veröffentlichte Seite des Tagebuchs. In dem Maße aber, wie niemand ein Tagebuch veröffentlichen würde, drängt diese Bekenntnisprosa in jeder Zeile nach Publikation. Aus dem einen oder anderen Grund. Recht häufig kann es sein, daß die AutorInnen meinen, nichts anderes hinzubekommen, vor dem Fiktivem zurückschrecken und ihren ganzen Stilwillen dann darin erschöpfen. Es gibt auch hier einige ganz flotte literarische Texte, meist die, in denen "Confessiones" oder "Confessions" auch schon im Titel steckt. Spontan würde ich sagen, daß die literarische Version davon zunächst bei Augustinus zu suchen ist (Confessiones), bei Rousseau (Confessions) oder bei Thomas de Quincey (Confessions of an English opium-eater). Goethes "Dichtung und Wahrheit" stellt allerdings etwas sehr eigenes dar.
Von der Autobiographie unterscheiden sich diese Texte in der Länge - die Autobiographie versucht ja ein ganzes Leben zu fassen, die bekenntnishaften Kurzprosatexte nur Aspekte daraus - oder im Fokus, wie bei de Quincey, der gewisse Jahre seines Lebens einfach nur aus der Drogenkarriere heraus betrachtet (übrigens ein tolles Buch!). Auch bei Augustinus hat das ganze etwas Monolithisches, geht es doch natürlich um die Geschichte seiner Metanoia und Begegnung mit dem christlichen Gott.
Wenn Du Dich in Literaturforen umsiehst, wirst Du feststellen, daß etwa 50% aller unter Kurzprosa veröffentlichten Texte solche Bekenntnisprosatexte sind. I.a. führen sie bei erfahrenen LeserInnen dazu, sofort weiterzuscrollen - was müssen mich die halbliterarisierten Erfahrungen einer 15jährigen interessieren? Und wenn, dann sind wir gewohnt, solch subjektiv-schwermütige Gedanken in Lyrik zu lesen, wo sie vorderhand auch eher mal ihren Platz haben. Bei Nensch - na, Du weißt ja, wer dort immer so für Nachschub gesorgt hat. - Es ist auch nichts dagegen zu sagen, dergleichen zu schreiben, aus selbsttherapeutischen Zwecken ist es gut, auch als Vorübungen für literarisierte Texte - aber sie müssen eben in den seltensten Fällen veröffentlicht werden.
Ja soweit mal heißen Dung... Ich hatte zunächst an Tagebuchisiertes gedacht, von dem ja Lovecraft herzlich gern Gebrauch macht. Ein typisches Stilmittel ist bei ihm ja der Protagonist, der quasitherapeutisch seine oder ihm von anderen Kaputten berichtete grauenhaften Erlebnisse niederschreiben oder wiedergeben muß, andererseits aber darauf drängt, daß es bloß keiner je erfährt und man die eigenen Aufzeichnungen zum Thema tunlichst dem Kamin überantworten sollte...
Was dann aber natürlich der (auto)biographischen Note im Hinblick auf den Autor entbehrt (hoffen wir mal, daß HPL den meisten Zinnober in seinen Stories nicht selbst erlebt hat! ).
ZitatWie sehr geht bei Dir eigentlich Deine eigene Vorliebe, Dein Stilwillen, Deine Technik in so etwas ein? Kann man bloß Handwerkliche immer von der eigenen poetologischen Position trennen? (Dass man es oft kann, ist mir natürlich klar) Mir, beispielsweise, wäre es sehr schwergefallen, nicht überall "zu viele Worte" dran zu schreiben, aber davon geht mindestens 80% auf meine Vorliebe für wenig Worte in Erzähltem. Man halte mir hier nicht meine Wertschätzung für Th. Mann vor...
Naja, ganz ausschließen kann man den eigenen Stilwillen natürlich nie. Aber wenn ich aus Boris Text meinen eigenen machen wolte, hätte ich natürlich auch viel mehr anzumerken gehabt.
Mittlerweile ist das ein Erfahrungswert geworden. Ich habe nach, ja, sieben oder acht Jahren Lektoratsarbeit, teilweise unter größtem Druck (erkältet, Schädelschmerzen, Migräne, Text nicht schriftlich vorliegend, also Beurteilung nur über das Gehörte vornehmbar), schon eine Basis, von der ich für die Beurteilung ausgehen kann. Wobei ich natürlich regelmäßig dazulerne und lernen muß.
Ich gehe immer davon aus, daß Textarbeit, Lektorat eine subjektive Note enthält. Mal damit angefangen, daß die Schwerpunkte, die ich setze, einfach die meinen sind. Meine Schwerpunkte sehen etwa wie folgt aus:
1. Stilistisch weniger Versierte werden weniger hart beurteilt, d.h. die Kritik ist oberflächlicher, weil die Texte meist schon an der Struktur kranken. Hier kann es erst mal nur darum gehen, den Verfassern einen prinzipiellen Zugang zum Schreiben von Geschichten zu vermitteln und die markanten Eckdaten der Textsorten vorzustellen. Man sollte nicht glauben, daß ungefähr 90% aller schreibinteressierten Anfänger den Unterschied zwischen betrachtender Kurzprosa (Bekenntnisprosa, tagebuchähnliche Aufzeichnungen) und Geschichten, also Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen, nicht verstehen und in den eigenen Texten erst nach gut einem Jahr Arbeit herausarbeiten können. Neben Aufbaufehlern muß man hier besonders auf gedankliche und logische Fehler achten.
2. Stilistisch weniger Versierte: weniger harte Textarbeit. Im Umkehrschluß heißt das, daß ich bei stilistisch Versierten stärker auf Details achte, also auf Stilprobleme im engeren Sinne. Darin zeigt sich eine zweite subjektive Note, weil ich bis zu einem gewissen Punkt Sprachpurist bin. Ich motze über Konjunktivfehler, die selbst bei großen Verlagen inzwischen an der Tagesordnung sind, über Tempusfehler, über vermeidbare Anglizismen, undundund. Darüber hinaus gibt es aber auch stilistisch für mich Grenzwertiges, das ich gern einmal übersehe, wenn es konsequent durchgehalten und so Teil des Verfasserstils ist. Boris räumt selbst ein, daß er gern blumig schreibt und hier und da Zieradjektive verwendet. Das muß man akzeptieren, außer in Fällen, wo es unfreiwillig komisch wird oder den Text entstellt. Es gibt aber freilich KollegInnen, die da mit harter Hand dreinschlagen und es kaum schaffen, zu trennen zwischen Stilproblemen und den Erfordernissen der literarischen Schule, der sie sich zugehörig fühlen.
3. Was schließlich auch subjektiv ist, aber mir einfach nicht so wichtig, sind inhaltliche Diskussionen. Es gab in all den Jahren in meinen Schreibwerksätten erst einen Fall, in dem wir über die ethische Konsequenz eines Texts diskutiert haben. Es war tatsächlich notwendig geworden, weil es eine an die Grenzen des Zynismus und der Menschenverachtung stoßende Satire war. Ansonsten haben solche Diskussionen einen Metaeffekt. Ich sehe nicht, was sie in einer Textarbeit zu suchen hätten, das ist Teil des literarwissenschaftlichen Diskurses oder der interpretativen Arbeit an einem Text, aber es greift mir gemeinhin viel zu tief in die Rechte des Autors an seinem Text ein. Aus den FAQ für AutorInnen wissen wir, daß es eine ultimative Antwort auf die meisten dieser Fragen gibt: "Warum ich das so und nicht anders geschrieben habe? Weil es mein Text ist, Himmelarschunddonnerwetter!" Diskussionen über dergleichen sind unfruchtbar. Daran kranken m.E. die meisten sog. Literaturforen im Netz. Nach einer Woche Leselupe war ich so krank von dem Geschmodder, dem inhaltlichen Geseier, das da abgelassen wurde, daß sich mein literarischer Magen umzustülpen begann. Was nicht allein daran lag, daß es schon immer ein Forum der Ahnungslosen war, sondern daß zuviele Beknntnisprosaisten unterwegs waren, denen andere Bekenntnisprosaisten nach dem Maul redeten.
4. Was mich schließlich auch nur mäßig interessiert, außer dort, wo es den Stilfehlerbereich erreicht, ist die genauere Untersuchung von Erzählperspektiven. Das ist eine Deutschlehrerdomäne, und das sollte es auch bleiben. Der literaturwissenschaftliche Ansatz dahinter ist etwa so alt wie die Herren selbst und hat sich spätestens im Laufe der 80er Jahre mehr oder weniger totgelaufen.
Unter diesen Prämissen zu arbeiten, hat sich für mich bewährt. Natürlich hab ich das Rad nicht neu erfinden müssen, ich hatte gute Lehrer. Darunter übrigens - dem Herrn sei Dank! - nicht ein Deutschlehrer! Nur richtige Akademiker.
Ist mir ja ein wenig peinlich, so kurz zu antworten: Merci!
Ich galube (!) auch, dass man einiges an Erfahrung braucht, um zwischen "So kann man das nicht schreiben" und "So würde ich das nie schreiben" reinlich zu trennen.
Da hat es wohl ein Lektor ohne eigene literarische Tätigkeit einfacher. Wobei ich jetzt ohne weitere Nachprüfung hypostasiere, dass es die gibt.
Galube (?!) ich nicht. Ebensowenig wie es ein Schreibdozent, der selbst nicht schreibt, leichter haben soll mit seinem Dozieren.
Der Lektor muß idealerweise seinen Autor so gut kennen, daß er um dessen stilistische und persönliche Schwächen weiß und die rechte Motivation für die einen und die anderen findet. Das setzt aber einfach voraus, daß man als Lektor selbst schon intensiv gerungen hat mit der Sprache und und dem Plot. Oder der thematischen Aufarbeitung. Theoretische Erfahrungswerte gibt es, wie überall im Leben, nicht. Kunst ist aber neben Intuition auch Handwerk, Handwerk bedeutet jahrelange Erfahrung, und zwar eben nicht nur darin, mit diesem oder jenem Kniff Handlungsstränge zusammenzuführen und Erzählperspektiven zu gestalten (ohnehin überschätzt), sondern auch, einen Stoff mental überhaupt verarbeiten zu können. Wer diese Erfahrung nicht hat, wird kaum über die eines Korrektors hinauskommen. - Die man aber natürlich nicht gering schätzen oder gar unterschätzen sollte, gerade in Zeiten, in denen wir vom idealen Lektor meilenweit entfernt sind.
Für mich gilt daher: ein guter Fußballtrainer muß kein guter Fußballspieler gewesen sein, muß überhaupt kein Fußballspieler gewesen sein. Aber ein guter Lektor, oder, noch wichtiger, Schreibdozent (das gilt natürlich auch für die anderen Künste), muß selbst schreiben. Oder zumindest geschrieben haben (wobei mir Leute suspekt sind, die von sich sagen, sie "hätten ja auch einmal geschrieben". Frustrationspegel meist gegen zehn auf der nach oben offenen Stolper-Skala).
Ich galube (! - wird das ein neues Flügelwort für 2006?) schon, daß auch ein schlechter Autor durchaus einen guten Lektor abgeben kann. Selbst wenn er es selbst nie hinbekam, einen zünftigen Roman selbst zu basteln (aus Faulheit, Inspirationslosigkeit oder schlag' mich tot, wieso), könnte er einen solchen eventuell ja doch noch erkennen, bzw. aus einem Mehrbegabten herauskitzeln können.
Der point-cnaque liegt wohl darin, daß man die Tätigkeit des Autors zumindestens aus eigener Anschauung kennen muß, wie Du schreibst.
Leute, die das dann allerdings abtun mit "Hab ich auch mal gemacht - bin ich drüberweg..." gehen einem allerdings schnell gegen den Strich, duck-oar...